„Eines Christen Handwerk ist beten“, hat Martin Luther gesagt. Es war als Ermahnung gedacht. Es kann aber dieser Tage auch als Entlastung gelesen werden. In den Kirchen, in den sozialen Medien, auf den Webseiten – auch bei uns – werden in diesen Wochen so viele Gebete vorgeschlagen, die den drückenden Sorgen der Menschen Ausdruck geben wollen: Gebete in der Passionszeit, Gebete für den Frieden anlässlich des Jahrestags des russischen Angriffs auf die Ukraine, Gebete für den Weltgebetstag am 3. März. Wird das nicht irgendwann zu viel? Nein, sagt Luther: „Christen, die beten, sind wie Säulen, die das Dach der Welt tragen.“
Ein schönes Bild. Beten lässt uns zusammenstehen, macht uns belastbarer, stützt uns gegenseitig beim Tragen der Last. Gebete verändern die Betenden. Aber verändern sie auch die Wirklichkeit? Anders gefragt: Wer hört unsere Gebete?
Anna-Nicole Heinrich, die Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands, hat für diese Frage jüngst in einem Podcast ein schönes Bild gefunden: Beten sei wie eine WhatsApp-Nachricht an jemanden, der die blauen Häkchen als Lesebestätigung ausgeschaltet hat. Wir können nie sicher sein, ob und wann unsere Bitten gehört werden. Aber wir bekommen sie auch nicht als „unzustellbar“ zurück. Das muss reichen, um mit dem Gebet eine Hoffnung auf Erhörung zu riskieren. Doch der Zweifel bleibt.
Das thematisiert auch die wohl schönste Sammlung von Gebetsformen, das biblische Buch der Psalmen, über Jahrhunderte entstanden in einer Zeit voller Kriege, Zerstörungen und Vertreibungen. Es sind Rufe verzweifelter Menschen in krisengeschüttelten Situationen. Viele dieser poetischen Seufzer sind fern von jener Gottesgewissheit, mit der manches derzeit zu lesende Gebet breitbeinig daherkommt. Es geht um Erfahrungen von Verlassenheit, Gottesferne und Ungerechtigkeit. Themen, die wieder sehr aktuell sind. Dass die Psalmen bei aller Klage über die ungerechten Herrscher der Welt und dem zunächst ausbleibenden Eingreifen des Allmächtigen dennoch Trost spenden können, zeigt vielleicht dieser Psalm 82 – einer der kürzesten und ungewöhnlichsten:
Gott steht in der Gottesgemeinde und ist Richter unter den Göttern.
„Wie lange wollt ihr unrecht richten und die Frevler vorziehen?
Schaffet Recht dem Armen und der Waise
und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht.
Errettet den Geringen und Armen und erlöst ihn aus der Gewalt der Frevler.“
Sie lassen sich nichts sagen und sehen nichts ein, sie tappen dahin im Finstern.
Es wanken alle Grundfesten der Erde.
„Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten;
aber ihr werdet sterben wie Menschen und wie einer der Fürsten zugrunde gehen.“
Gott, mache dich auf und richte die Erde; denn du bist Erbherr über alle Völker!
OKR Dr. Dr. Frank Hofmann