„We The People“ – ein interreligiöses Gebet für die Demokratie

Der gewaltsame Sturm des Washingtoner Kapitols durch einen bewaffneten rechtsradikalen Mob am 6. Januar löste weltweit Entsetzen und Bestürzung aus. In den USA sorgte dieser Frontalangriff auf das symbolische Herzstück des eigenen demokratischen Selbstverständnisses für große Verunsicherung. Mit einer „Interreligiösen Vigil für Demokratie“ versuchte eine multireligiöse Koalition aus New York dieser Unsicherheit zu begegnen.

Alexander Benatar
Schreibtisch (Homeoffice), aufgeklapptes Notebook, auf dem Bildschirm digitales Meeting mit mehreren Personen

Am Mittwoch, den 6. Januar 2021 wurde die Welt Zeugin von Ereignissen, die sich zuvor wohl kaum jemand vorzustellen gewagt hätte: Angestachelt durch den scheidenden Präsidenten Donald Trump stürmte ein rechtsextremer Mob das Herzstück der US-amerikanischen Demokratie. Wie Trump selbst nicht willens oder in der Lage, die republikanische Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im November 2020 einzugestehen, drangen seine Anhänger während der parlamentarischen Bestätigung des Wahlergebnisses in das Washingtoner Kapitol ein. Die symbolträchtigen Bilder von der wild zusammengewürfelten Menschenmenge gingen live um den Globus. Seite an Seite zogen zum Teil antisemitische AnhängerInnen der Verschwörungstheorie QAnon, einschlägig tätowierte Neonazis und rechtsradikale ChristInnen triumphierend in das US-amerikanische Bundesparlament ein. Letztere führten neben Megafonen auch einige „Schofars“ mit sich, traditionelle jüdische Blasinstrumente aus Naturhorn, die sie, in Anlehnung an die biblische Erzählung von der Einnahme der Stadt Jericho durch die Israeliten, ertönen ließen. Die Sicherheitskräfte, sonst am Kapitol omnipräsent, schienen sich der andrängenden Menge kaum in den Weg zu stellen.

In der US-amerikanischen Öffentlichkeit lösten diese gewalttätigen und offen demokratiefeindlichen Ausschreitungen, in denen fünf Menschen ihr Leben verloren, Empörung und Bestürzung, aber auch Verunsicherung aus. Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte es sein, dass derselbe Sicherheitsapparat, der die staatlichen Einrichtungen in Washington nur Monate zuvor mit paramilitärischen Mitteln gegen die Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung verteidigt hatte, gegen diesen Aufmarsch mit Schusswaffen, Rohrbomben und Molotow-Cocktails bewaffneter „White Supremacists“ so offensichtlich wehrlos war? Manche verglichen diesen Angriff von Konföderierten-Flaggen schwingenden Randalierern auf die demokratische Verfasstheit der USA gar mit den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Das deutsche Publikum fühlte sich von dem gruseligen Spektakel an den Anblick von Reichsflaggen vor dem Bundestag während einer der „Querdenker“-Demonstrationen im letzten Sommer erinnert. In jedem Fall empfanden viele Menschen diesen 6. Januar 2021 als einen Moment der Unsicherheit über die Identität und der Sorge um die nationale Einheit der USA.

Eben diese existenzielle Not und diesen Bedarf nach Orientierung und Halt erkannten auch einige Religionsgemeinschaften in New York. Unter Federführung der jüdischen NGO „Marlene Meyerson Jewish Community Center“ in Manhattan initiierte vor diesem Hintergrund eine ad hoc gebildete „Interfaith Coalition of We the People“ am Freitag, dem 8. Januar, eine „Interfaith Vigil for Democracy“ („Interreligiöse Vigil für Demokratie“). Man habe am Mittwoch hilflos dabei zusehen müssen, wie heilige Symbole der Demokratie wie die US-amerikanische Flagge durch Extremisten und Hassgruppen missbraucht worden seien, hieß es in der per Email versandten Einladung zu dieser Zoom-Veranstaltung. Nun werde man nicht isoliert und in Hilflosigkeit erstarren, sondern als Amerikaner und Glaubensgemeinschaften zusammenkommen, um den Wert und das Privileg der eigenen Freiheit zu bekräftigen und an die Pflicht zu erinnern, für die Demokratie einzustehen.

Ebenso wie die antidemokratischen ProtestteilnehmerInnen in Washington sparte man bei dieser dezidiert demokratie-bejahenden Online-Andacht nicht an identitätspolitischer Symbolik. Bereits in ihrem Namen zitierte die interreligiöse Initiative mit „We the People“ die Anfangsworte der US-amerikanischen Verfassung, und den Auftakt der Mahnwache bildete eine Live-Neuvertonung des bekannten Gedichts „The New Colossus“, das im Podest der New Yorker Freiheitsstatue verewigt ist. Der 6. Januar sei einer der schlimmsten Tage in der Geschichte des Landes gewesen, sagte die Rabbinerin Joy Levitt in ihrer Begrüßung zu diesem außergewöhnlichen Gebet. Es habe sich gezeigt, wie gefährlich die Ideologie der „White Supremacy“ („Weiße Vorherrschaft“) sei und wie fragil die US-amerikanische Demokratie. Die US-Bürger ebenso wie die Religionsgemeinschaften trügen nun eine Verantwortung, die Menschen zu vereinen und dafür zu sorgen, dass schwarze Leben wirklich zählten.

Anschließend schilderte der frischgewählte junge New Yorker Abgeordnete Mondaire Jones eindrücklich seine Erlebnisse während der bangen Stunden am 6. Januar, als die gewählten Repräsentanten aus dem Kapitol evakuiert werden mussten, während einem rassistische Mob das Feld überlassen wurde. Er sprach von „Inlandsterroristen“ und einem „gewaltsamen Angriff auf die Demokratie“. Aber: die Demokratie habe den Sieg davongetragen, und nun sei es an der Zeit, sie wieder in Gang zu bringen. Pastorin Chloe Beyer, Leiterin des „Interfaith Center of New York“, ergänzte ihren Vorredner. Die Ereignisse in Washington hätten jenseits ihrer Vorstellungskraft gelegen. Hoffnung gebe ihr aber der Gedanke daran, dass am selben Tag, an dem White Supremacists das Kapitol stürmten, zum ersten Mal ein Jude und ein Schwarzer zu Senatoren von Georgia (einer Hochburg der White Supremacists) gewählt wurden. Abgerundet wurde die teils sehr emotionale Online-Vigil durch Grußworte von VertreterInnen muslimischer, hinduistischer und buddhistischer Gemeinschaften sowie eine Live-Performance des ehemaligen Broadway-Singers und „Homeland“-Schauspielers Mandy Patinkin, der unter anderem das Lied „God bless America“ auf Jiddisch aufführte.

Sowohl das patriotische Pathos in dieser geistlichen Veranstaltung als auch die religiöse Symbolik unter den Aufrührern vor dem Kapitol illustrieren einmal mehr die Verwobenheit von religiöser und politischer Identität in den USA. Dass innerhalb von weniger als 48 Stunden eine durchaus beachtliche Anzahl von über 50 multi- und interreligiösen Organisationen zu einer solchen „Koalition für die Demokratie“ zusammenfinden konnte, belegt wiederum eindrucksvoll die Stärke der Bande interreligiöser Zusammenarbeit vor Ort.

Alexander Benatar

Link zur Veranstaltung:
https://www.youtube.com/watch?v=ZLGAmc4mpMc

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Foto Dr. Alexander BenatarDr. phil. Alexander Benatar
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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