Staatliche Handreichungen und Beratungsangebote für radikalisierte Personen

In den letzten Monaten sind zwei Handreichungen zum Umgang mit radikalisierten Muslimen und deren Angehörigen erschienen. Michael Utsch vergleicht sie und stellt sie in den Horizont weltanschaulicher Beratungsarbeit.

Michael Utsch
Telefonierende Frau, Ansicht Hinterkopf (Symbolbild Beratung)

Seit 2012 unterhält das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Informationsangebot für das soziale Umfeld (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen und koordiniert dazu ein bundesweites Beratungsnetzwerk. Wie in der klassischen Sektenberatung wenden sich die Angebote nicht primär an die angeworbenen Überzeugten selbst, sondern an die Angehörigen und Freunde als sekundär Betroffene. Eine eigens dafür geschaffene Beratungsstelle „Radikalisierung“ des BAMF nimmt Anfragen über eine Telefonhotline entgegen und vermittelt diese nach dem Erstberatungsgespräch an eine zuständige Beratungsstelle weiter. Zu dem BAMF-Netzwerk zählen mittlerweile 14 lokale Beratungsstellen in fast allen Bundesländern. Im Jahr 2018 wurde eine erste Handreichung mit Beratungsstandards für die damit verbundenen komplexen Fragen veröffentlicht, die in den letzten beiden Jahren mit den Beteiligten der multiprofessionellen Teams diskutiert und weiterentwickelt wurde. Nun liegt eine 2., erweiterte Fassung vor, die auf der BAMF-Internetseite verfügbar ist.

Nach der Beschreibung allgemeiner Standards der Beratungspraxis mit ihren Werthaltungen und Arbeitspraktiken wird in der 2. Auflage auf die Qualifikationen des multiprofessionellen Teams eingegangen (S. 16). Dort werden explizit auch die Religionswissenschaft und die Theologie bzw. die Seelsorge als akademische Disziplinen genannt, die in den Teams des Netzwerks vertreten sind. Der Abschnitt „Methoden der Beratung“ wurde in der 2. Auflage erweitert um Einträge zu „religionssensibler Beratung“ und „theologische und religionspädagogische Beratung“ (S.30). Während bei einem religionssensiblen Vorgehen existentielle Fragen aufmerksam, aber wertneutral bearbeitet werden, ermöglicht eine bekenntnisorientierte Beratung die persönliche geistliche Begleitung. Sie arbeitet „mit gemeinsamen Gebeten, tröstet und muntert mit Worten aus Koran oder Bibel auf, bietet soziale Unterstützung und kann Distanzierungsprozesse auslösen“ (ebd.).

Überarbeitet wurde ebenfalls der Abschnitt der Fallbeispiele. Sie wurden auf zwei reduziert, dafür viel systematischer aufbereitet und übersichtlich in einzelne Phasen gegliedert, wodurch der Beratungsverlaufsprozess anschaulich nachvollziehbar wird. Nach einer Übersicht der lokalen Beratungsstellen des BAMF-Netzwerks inklusive Kontaktdaten ist die 2. Auflage der Handreichung um den Anhang „Praxiseinblicke in die verwandten Phänomenbereiche des Rechtextremismus und der sog. Sekten“ ergänzt worden. Dazu sind Erfahrungen der Ausstiegsarbeit einer Beratungsstelle in Mecklenburg-Vorpommern sowie vom Sekten-Info Nordrhein-Westfalen zusammengefasst worden. Im ersten Praxiseinblick geht es um Wechselwirkungen zwischen Autoritarismus und Erziehung, im zweiten um die Gratwanderung zwischen Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Die überarbeitete 2. Auflage der Handreichung hat von der intensiven multiprofessionellen Diskussion profitiert und nun stärker religiöse und theologische Perspektiven einbezogen, die in den Beratungen offensichtlich eine Rolle spielen.

Eine zweite neue Publikation wurde auf Grundlage eines Forschungsprojekts zum Thema „Radikalisierung“ von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie der Universitätsklinik Ulm wurde veröffentlicht. Für die Erarbeitung einer Handlungsempfehlung für Ärzte und Psychotherapeuten wurde die Forschungsliteratur gesichtet und Interviews mit 17 Experten geführt und ausgewertet. Die Erarbeitung der Empfehlung wurde durch das BAMF gefördert und ist über die Universität Ulm zugänglich. Leider fehlen in dieser Handlungsempfehlung die religionswissenschaftlichen und theologischen Bezugnahmen gänzlich, die bei der BAMF-Handreichung glücklicherweise durch die Überarbeitung in der 2. Auflage mit eingearbeitet wurden. So beschränkt sich diese Empfehlung auf allgemeine Grundlagen der Einflussfaktoren von Radikalisierungsprozessen. Obwohl sie mit 145 Seiten weitaus umfangreicher als die BAMF-Handreichung ist, gehen die Anregungen zur Früherkennung von Radikalisierungsprozessen nicht in die Tiefe. Was im Abschnitt über gruppendynamische Aspekte zusammengefasst wurde, entspricht dem Grundlagenwissen über geschlossene religiöse Gemeinschaften. Wenn Bezüge zu den langjährigen Erfahrungen der weltanschaulichen Beratungsarbeit hergestellt worden wären, wie sie etwa in der Broschüre „Ausstieg aus destruktiven Gruppen“ vorliegt (https://destruktive-gruppen.de/), hätte der Text knapper und griffiger formuliert werden können. Breiten Raum nehmen in der Ulmer Handlungsempfehlung die Grundlagen forensischer Risikobewertung sowie die rechtlichen Grundlagen (Schweigepflicht brechen, Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung) ein, wenn etwa eine Klientin an einem Selbstmordattentat beteiligt ist. Dieser Handlungsempfehlung ist ebenfalls eine Überarbeitung zu wünschen, in der die Erkenntnisse und Erfahrungen religionssensibler Psychotherapie und die thematisch naheliegende Zusammenarbeit mit Seelsorgeangeboten und den weltanschaulichen Beratungserfahrungen eingearbeitet werden. 
       
Michael Utsch   
    
BAMF-Handreichung „Standards in der Beratung“ 
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/deradikalisierung-standardhandreichung-2020.html?nn=282388
 
Handlungsempfehlung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen aus dem Universitätsklinikum Ulm
https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Dokumente/Handlungsempfehlung_Radikalisierungsprozesse.pdf

Ansprechpartner

Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin