Ein jeder weiß, was „Kunst“ ist, und eine jede, was „Religion“ bedeutet (wenigstens so ungefähr). Aber „Kunstreligion“? Offenbar geht es um Phänomene, die irgendwie beiden Bereichen zugehören, um Vollzüge oder Erfahrungen, in denen „Kunst“ und „Religion“ in besonderer Weise zusammentreffen. Im Folgenden sollen die Facetten des schillernden Begriffs in den Blick genommen werden und damit auch die schillernden Phänomene, auf die er verweist.
Ungeachtet dessen, dass der Terminus im allgemeinen Sprachgebrauch wenig vorkommt und dass er auch in den religionsbezogenen Wissenschaften allenfalls am Rande Berücksichtigung findet, soll dabei seine gegenwärtige religionsdiagnostische Bedeutsamkeit herausgestellt werden. Der Begriff kann als Sonde für eine Spielart „unsichtbarer Religion“ (Thomas Luckmann) dienen, die sich jenseits herkömmlicher religiöser Institutionen, Gemeinschaften und Praktiken vollzieht, die aber gleichwohl nicht von vornherein als irrelevant oder illegitim eingestuft werden sollte. Wer ein Sensorium für die fluiden Formen von Spiritualität besitzt, in denen sich der menschliche „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Friedrich Schleiermacher) heute bei vielen artikuliert, wird vom Konzept der Kunstreligion auf die Fährte einer ästhetisch-religiösen „Zwittergestalt“ geführt, die abseits der geläufigen Wege institutionell identifizierbarer Religion verläuft. Die Mühsal, sich damit in unübersichtliches, kaum kartografiertes Gelände zu begeben, wird vergolten durch den Gewinn einer vollständigeren Gesamtsicht der religiösen Landschaft.