In allen Diözesen und Landeskirchen gibt es mittlerweile Ansprechpersonen für sexuelle Gewalt, Aufarbeitungsprozesse und Präventions-Schulungen. Weil sexuelle Übergriffe im religiösen Umfeld oft durch geistlichen Missbrauch gebahnt und vorbereitet werden, ist hier erhöhte Aufmerksamkeit nötig. Die Missachtung der spirituellen Selbstbestimmung wird allerdings erst seit kurzem genauer in den Blick genommen.
Aktuelle Befunde in der katholischen Kirche, in Freikirchen und dem Islam
Zu Beginn des Workshops vermittelte die katholische Pastoraltheologin Ute Leimgruber von der Universität Regensburg Einblicke in ein Forschungsprojekt über spirituellen Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche. Erste Auswertungen von Betroffenenberichten zufolge gebrauchen religiöse Leiter ihre Macht eigennützig und zerstören dadurch das in sie und in Gott gesetzte Vertrauen nachhaltig. Die Folgen bei den Betroffenen beschrieb die Forschergruppe als „Selbstverlust und Gottentfremdung“. Die Forschung sucht nach den Ursachen spirituellen Missbrauchs, der im krassen Widerspruch zu der befreienden Botschaft des Evangeliums steht. Wie kann es sein, dass ein Mensch sich an Gottes Stelle setze und das Leben eines anderen dominiere und schädige? Die Forscherinnen nehmen zum besseren Verständnis der psychologischen Faktoren und Mechanismen vor allem die Perspektive der Betroffenen ein. Betroffene erfahren den Verlust der eigenen Wahrnehmung und werden in ihrem Selbstwert im Innersten demoliert. Vor allem weisen die Forscher/-innen bei Leitenden auf die Gefahren einer unreflektierten Seelsorge hin, die zerstörerische Auswirkungen haben könne.
Ein Leitfaden zum verantwortlichen Umgang mit Macht
Die Leiterin des Arbeitskreises „Machtmissbrauch“ von der evangelikalen Dachorganisation „Evangelische Allianz“, Martina Kessler, gab zunächst einen Überblick über die Vielfalt der in Deutschland beheimateten klassischen, charismatischen und unabhängigen Freikirchen. Für die hochreligiösen Mitglieder dieser Gemeinden sei der Glaube, die Gemeindezugehörigkeit und die Nähe zum Pastor als Seelenführer wichtig, dem deshalb eine hohe Verantwortung zufalle. Sie erinnerte daran, dass der Begriff „spiritual abuse“ erstmalig 1991 von Pastoren einer US-amerikanischen charismatischen Freikirche definiert wurde, um den Machtmissbrauch einer geistlichen Autorität in einer geschlossenen Gruppe zu benennen. Auch das erste deutschsprachige Fachbuch wertete Erfahrungen aus dem evangelikalen Milieu aus, Inge Tempelmann zeigte dort „Auswege aus frommer Gewalt“ (Wuppertal 2007). Die Referentin stellte einen von der Arbeitsgruppe entwickelten Leitfaden vor, um Ratsuchenden eine Hilfe zur Einschätzung des Leitungsverhaltens einer geistlichen Autorität zu geben. Anhand von 15 Fragen kann festgestellt werden, ob die Leitungsperson verantwortlich, ungut oder missbräuchlich mit der ihr/ihm verliehenen Macht umgeht (Link zum Papier).
Großer Lernbedarf in muslimischen Gemeinschaften
Kathrin Klausing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück, steuerte aus der Perspektive ihres Forschungsschwerpunkts Geschlechtergerechtigkeit eine islamische Sichtweise bei. Zunächst erläuterte sie die Vielfalt der organisatorischen Strukturen islamischer Gemeinschaften und Verbände, die auch aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsländer mit ihren Sprachen und Kulturen keinen übergreifenden Dachverband und deshalb auch keine Hilfestrukturen entwickelt hätten. Es gebe aber einen Hype um „celebrity sheikhs“, die als Meister angehimmelt würden. Die Grenzen zu emotionalen und geistlichen Übergriffen sei hier sehr schmal. Man habe erst kürzlich begonnen, Verhaltensmuster zu identifizieren, um die Überhöhung und Inschutznahme übergriffiger religiöser Meister zu verhindern. Drei häufige Abwehrreaktionen seien besonders verbreitet: „Seine Absichten sind gut; er hat schon so viel Gutes getan; er steht in der Tradition des Propheten und darf das“. Viele islamische Verbände und Gemeinden würden aufmerksam die Präventionsmaßnahmen der Kirchen im Blick haben und möchten diese gerne adaptieren. Klausing selbst sei dankbar für die wertvollen Impulse und Kontakte dieses Workshops.
Am Nachmittag wurden die Impulse in drei thematischen Gesprächsgruppen persönlich vertieft: Welche Strukturen begünstigen, welche verhindern den Missbrauch religiöser Autorität? Gibt es typische „Opfer- und Täter/-innen-profile“? Welche Haltungen, welche Überzeugungen und welche Sprache begünstigen oder verhindern den Missbrauch geistlicher Autorität?
Fazit
Der Workshop-Tag verlief in offener und wertschätzender Atmosphäre, der auch Platz für den persönlichen Austausch bot. Für die Impulse und Gesprächsmöglichkeiten waren die Teilnehmer:innen dankbar und regten an, sich dieser wichtigen Herausforderung für Religionsgemeinschaften weiter in interreligiöser Zusammenarbeit zu stellen.
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