Laut einer repräsentativen Studie haben 56 Prozent der Österreicher:innen konkrete Erfahrungen mit ganzheitlichen Praktiken gemacht. Der Gedanke, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, hat für viele Plausibilität. Wo liegen die Wurzeln solcher Ganzheitslehren? Welche Rolle spielen sie in der Alternativmedizin und in der esoterischen Praxis?
Ganzheitliches Denken: Zwischen Spiritualität und Kritik
Ganzheitliches Denken bewegt sich zwischen Sympathie für Spiritualität und skeptischer Kritik. Dieses zentrale Motiv esoterischer Weltanschauung findet insbesondere in der Alternativmedizin, auch als „Ganzheitsmedizin“ bekannt, Anwendung. Die Sehnsucht nach Verbindung mit dem „großen Ganzen“ wird als „spirituelles Grundbedürfnis“ betrachtet. Die ganzheitliche Perspektive konzeptualisiert den Menschen als Körper-Seele-Geist-Einheit. In der Gebrauchs-Esoterik wird das Konzept der Ganzheitlichkeit bis heute als Erklärungsmodell in verschiedenen Heilungsangeboten genutzt. Utschs Stichwort stellt die Ganzheitlichkeit als zentralen Topos im Feld esoterischer und alternativmedizinischer Angebote auf den Prüfstand. Dabei stellt er Fragen zur Herkunft, den Möglichkeiten und Grenzen des Ganzheitsdenkens in der Krankenversorgung sowie seinem Stellenwert in der Seelsorge. Utsch plädiert dafür, die Perspektive der Ganzheitlichkeit differenziert zu betrachten und weist auch auf problematische Entwicklungslinien hin.
Ganzheitliche Gesundheitsbewegung
Die ganzheitliche Gesundheitsbewegung entstand als Gegenbewegung zu medizinisch-technischen Optimierungsmodellen. Utsch beschreibt einen schwer überschaubaren Markt für ganzheitliche Gesundheitsangebote, der aus der „Hinwendung zu spirituellen, okkulten und esoterischen Praktiken mit dem Ziel einer verbesserten Körper-Seele-Geist-Ganzheit“ (156) resultierte. Diese Entwicklung hat seine Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert in Initiativen gegen das rationalistische Denken. Sie öffnete Medizin und Psychotherapie für Modelle aus Asien, insbesondere für hinduistische und buddhistische Versenkungsmethoden wie Yoga und Zen. Die New-Age-Bewegung und die transpersonale Psychologie übernahmen solche Ansätze, und der Physiker Fritjof Capra entwickelte ein systemisches Ganzheitsmodell. Das Konzept der Ganzheitlichkeit verspricht dabei vor allem, Mangelzustände auszugleichen. Jedoch bringt die ideologische Färbung des Konzepts bis heute eine Nähe zu Verschwörungserzählungen und Rechtsextremismus mit sich. Die esoterische Ganzheitsmedizin wird trotz negativer Einwände heute in verschiedenen Praktiken angewendet, und etwa die Hälfte der Bevölkerung dürfte bereits Erfahrungen damit gemacht haben. Zu der entsprechenden Studie von Franz Höllinger und Thomas Tripold zur Lage in Österreich hält Utsch fest: „Das Feld dieser Pilotstudie wurde bewusst weit abgesteckt und reichte von Yoga und Meditation über Homöopathie, Familienaufstellung und Akupunktur bis hin zu Reiki, Astrologie und Schamanismus“ (147).
Professionelle Neutralität und Patientenspiritualität
Ganzheitliche Heilverfahren sind für Utsch historische „Vorläufer der heutigen Medizin und Psychotherapie“ (151) und weltweit in verschiedenen Kulturen verwurzelt. In den letzten Jahrzehnten entwickelten sich ganzheitlich-integrative Konzepte einer Mind-Body-Medizin. Alternativmedizin-Kritiker Edzard Ernst analysierte zwanzig dieser Methoden gründlich. Dabei betont Utsch neben der wissenschaftlichen Güte auch die weltanschauliche Passung der Methode zum Weltbild des „Patienten“ bzw. „Klienten“ als entscheidendes Kriterium für eine solche Beurteilung. Ganzheitliche Therapien, basierend auf verschiedenen Quellen, beanspruchen durch Haltung und Einstellung Krankheiten zu heilen. Daher ist die Auseinandersetzung mit deren Prämissen durch diejenigen, die sich diesen Therapien aussetzen, von entscheidender Bedeutung. Nicht wenige Ansätze beruhen oft auf der Annahme, dass Umwelt oder Erziehung Schäden verursachten und durch mentale Techniken oder rituelle Handlungen Selbstheilungskräfte aktiviert werden können. Alle Therapieformen reflektieren bestimmte Weltanschauungen und übermitteln auch kulturelle Werte. Ein ärztlicher Fachverband betont vor diesem Hintergrund jüngst die Notwendigkeit der professionellen Neutralität in der Therapie, was jedoch eine angemessene Berücksichtigung der Patientenspiritualität nicht ausschließe. Die klare Trennung von psychiatrischen Behandlungen und spiritueller Begleitung wird von Utsch offen befürwortet, wenngleich die Zusammenarbeit von Therapeut:innen mit Seelsorger:innen in bestimmten Fällen für sinnvoll hält.
Grenzen der Selbstoptimierung
Das Streben nach Ganzheitlichkeit, einst ein Ideal für „Fülle“, erfährt laut Utsch heute regelrecht eine Umkehrung durch Selbstoptimierungsstress, so Utsch. Expert:innen warnen mittlerweile zunehmend vor den Grenzen medizinisch-psychologischer Machbarkeit und betonen ethische Implikationen. Die Seelsorge erkennt die Gebrochenheit des Menschen an und bietet religiösen Trost, Gelassenheit und Hoffnung als Gegenmittel zum Selbstoptimierungswahn. Die theologische Anthropologie hebt die menschliche Vulnerabilität hervor, wobei der Mensch als psychosomatische Einheit betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund entfalte die Bedeutung einer „ganzheitlichen Krankenbehandlung“ eine neue Bedeutung. Diese „zeichnet sich dadurch aus, dass medizinische und sozialwissenschaftliche Experten sich auf ihre fachlichen Kompetenzen beschränken und spirituellen Deutungen der Seelsorge überlassen“, so Utsch. Es geht also um Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit, die bereits in einigen klinischen Fallbesprechungen praktiziert wird. Ein Team aus Medizin, Pflege, Psychologie und Seelsorge berät dann gemeinsam über die nächsten Schritte in der Behandlung. Das sei eine Form eines ganzheitlichen Zugangs, der sich bewährt habe.
Vielen Dank für die Lektüre dieses EZW-Kurzberichts unserer Online-Redaktion zum Stichwort „Ganzheitlichkeit“. Wenn Sie das Thema interessiert, lesen Sie hier den entsprechenden Lexikon-Artikel in voller Länge: