Erfahrungsbericht einer Patientin von Traumatherapie bei „Ritueller Gewalt“

Der im Sommer 2020 veröffentlichte Jahresbericht 2019 des staatlichen „Sekten-Info NRW“ widmet sich ausführlich dem Thema „Rituelle Gewalt“. Der Bericht enthält einen Erfahrungsbericht einer Patientin, die in einer Therapie die Diagnose „Dissoziative Persönlichkeitsstörung“ gestellt und vermeintliche Erinnerungen an Rituelle Gewalt-Erfahrungen in der Kindheit suggeriert bekam. Ob das Phänomen einer „Dissoziativen Persönlichkeit“ überhaupt existiert, ist auch heute noch höchst strittig.

Kai Funkschmidt
Dunkler Raum, an der Wand Lichtschein von Lampen

Der im Sommer 2020 veröffentlichte Jahresbericht 2019 des staatlichen „Sekten-Info NRW“ widmet sich ausführlich dem Thema „Rituelle Gewalt“ (RG). Der Bericht enthält den ersten auf Deutsch publizierten Erfahrungsbericht einer Patientin, die in einer Therapie die Diagnose „Dissoziative Persönlichkeitsstörung“ gestellt und vermeintliche Erinnerungen an Rituelle Gewalt-Erfahrungen in der Kindheit suggeriert bekam. 

Der RG-Theorie zufolge gibt es große internationale Täternetzwerke scheinbar ehrbarer Bürger, die über Jahre hinweg bei geheimen Ritualtreffen durch „rituelle“ sexuelle Gewalt und „Mind-Control“-Techniken bei ihren Opfern absichtlich eine Dissoziative Identitätsstörung erzeugen können (DIS; auch als „Multiple Persönlichkeitsstörung“ bekannt). Die wiederholte Anwendung schwerster Folter und sexuellen Mißbrauchs bereits bei Säuglingen und Kleinkindern erzwinge eine gezielte Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit. Diese Persönlichkeitsanteile sollen dann programmiert und von den Tätern gesteuert werden können. „Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat,“ heißt es in einer Publikation des Bundesfamilienministeriums von 2018. 

Gestützt wird die ganze Theorie „Rituelle Gewalt und Mind-Control“ allein durch die Berichte von Betroffenen, deren Erinnerung an schwerste Grausamkeiten meist erst im Erwachsenenalter und oft innerhalb einer Therapie scheinbar „wiedererlangt“ werden (cf. False Memory, EZW-Texte Nr. 266, Berlin 2020). Es gibt eine relativ kleine, aber medial und lobbyistisch sehr aktive Gruppe von Traumatherapeuten, die sehr häufig diese Diagnose stellen, während die meisten Kollegen das ganze Konstrukt ablehnen und keine Opfer Ritueller Gewalt „entdecken“. 

Seit die Theorie der Satanistischen Rituellen Gewalt mit einer Publikation Michaela Hubers 1995 nach Deutschland gelangte, konnten zahlreiche polizeiliche Ermittlungen nie einen Hinweis auf die Existenz solcher Verschwörernetzwerke finden. Wissenschaftlich höchst strittig ist auch heute noch, ob das Phänomen einer „Dissoziativen Persönlichkeit“ überhaupt existiert. Mehrere führende Wissenschaftler, welche die Diagnose in den 1980ern in das amerikanische „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ aufnahmen (die sogenannte Diagnose-Bibel für Psychologie und Psychiatrie), haben sich inzwischen davon distanziert und halten es für eine Fiktion.

Gerahmt von einer Einordnung und Analyse der Psychologin Bianca Liebrand schildert der ausführliche Erfahrungsbericht das Funktionieren einer Psychotherapie, die falsche Erinnerungen suggeriert und einer Patientin schrittweise einredet, aus vielen verschiedenen Innenpersönlichkeiten (sog. „Innies“) zu bestehen. Diese „Innies“ sollen sich als Reaktion auf kindliche Erfahrungen ritueller Gewalt von ihrem Ich abgespalten haben.

„Ich wurde danach gefragt und verneinte ganz klar, da ich keinerlei Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch hatte. Die Therapeutin erklärte mir, dass man Missbrauch verdrängt und je schlimmer ein Missbrauch sei, desto tiefer würde man ihn verdrängen.“ Diese anfängliche Skepsis illustriert ein Gespräch im Rahmen der Therapie, bei dem festgestellt werden sollte, ob sie eine DIS-Persönlichkeit sei.
Ich wurde „plötzlich gefragt, ob ich mich prostituieren würde. (zur Erklärung: Ein solcher Hintergrund wird bei der Diagnose DIS häufig vermutet, gehört quasi zur Grundannahme dazu). 
Ich: „Nein, natürlich nicht!“ 
Diagnostikerin:  „Woher wollen Sie denn wissen, dass Sie sich nicht prostituieren?“ 
Ich: „Ich würde doch wissen, ob ich mich prostituiere!“ 
Diagnostikerin:  „Wenn eine andere Person von Ihnen sich prostituieren würde, würden Sie davon ja nichts mitbekommen.“ 
Ich: „Ich würde doch wissen, ob ich mich prostituiere!“
Diagnostikerin:  „Ja, woran würden Sie das denn merken, dass Sie sich prostituieren?“ 
[…]
Ich:  „Ich hätte dann ja wohl so etwas wie Reizwäsche.“ 
Diagnostikerin:  „Es könnte ja sein, dass die andere Person das bei ihrem Zuhälter aufbewahrt.“ 
Ich: „Ich hätte mehr Geld.“
Diagnostikerin:  „Es könnte ja sein, dass eine andere Person von Ihnen ein anderes Bankkonto hat.“ 
Ich: „Aber ich würde doch wissen…aber ich würde doch wissen…“
Diese Form der Argumentation, bei der mir am Ende kein Argument mehr einfiel, begegnete mir während meiner gesamten Therapiezeit.“

Sie wird als Dissoziative Persönlichkeit diagnostiziert und beschreibt, wie es ihr im Laufe der Therapie immer schlechter ging, wie verschiedene Therapeutinnen sie zunehmend überzeugen, sie sei bis heute von verborgenen Verschwörernetzwerken umgeben, jene Leute, die sie schon als Kind durch Rituelle Gewalt programmiert hätten, so daß sie sich nicht daran erinnern könne. Wahrscheinlich habe eine ihrer anderen Innenpersonen bis heute Täterkontakt. Für die Patientin selbst war das alles logischerweise nicht widerlegbar – es sollte ja jenseits ihres „normalen“ Wachbewußtseins stattfinden. Sie schreibt:

„Man hat Personen, von denen man nichts weiß, die schreckliche Dinge erlebt haben, von denen man nichts weiß und auch heute Dinge tun, von denen man nichts weiß und man weiß gar nicht, dass man nichts weiß. Das alles muss in der Therapie dann erst aufgedeckt werden. Das kann man als Klient nicht widerlegen, denn man würde gar nicht wissen, wenn es so wäre.“

Das Zusammenwirken der DIS-Patientinnen und ihrer gut vernetzten Psychotherapeutinnen, die an die Theorien von DIS und Ritueller Gewalt glauben, beschreibt die Patientin wie eine Art geschlossenes Sektenmilieu, in dem zumindest die Patientinnen zunehmend von ihren bisherigen sozialen Kontakten und Familien abgeschnitten werden. Die Welt werde hier in „Überlebende, Verbündete und Helfer“ einerseits sowie Täter und Täterschützer andererseits eingeteilt, umgeben von einer ahnungslosen, gleichgültigen Gesellschaft – eine für Verschwörungstheorien typische Dreiteilung der Welt.

Den Ausstieg schaffte sie nach mehreren Jahren, in denen es ihr immer schlechter ging, als sie eine Ergotherapeutin und eine amtliche Betreuerin zur Alltagsunterstützung bekam, also zwei Außenkontakte, die nicht aus dem Kreis der DIS-Anhängerinnen stammten.

Eigenes Nachdenken und nachfolgende Zweifel führten schließlich dazu, daß die Patientin sich selbst aus dieser Therapie befreite. Immer mehr Behauptungen zur Untermauerung der Theorien dieses geschlossenen Milieus erschienen ihr unplausibel. Zweifel weckte zum Beispiel, als sie hörte wie Michaela Huber, bis heute prominenteste Vertreterin der RG-Vorstellung in Deutschland, im Radio-Interview unter anderem erklärte, bei DIS-Patienten könnten verschiedene Innenpersönlichkeiten verschiedene Augenfarben haben und Michaela Hubers Behauptung, DIS-Patientinnen hätten übernatürliche Fähigkeiten. Auch die im Milieu verbreiteten Geschichten von Menschen, die als Baby eine Vergewaltigung über glühenden Kohlen überlebt haben sollten und später eine DIS entwickelten, in der sie sich an diese Ereignisse erinnerten, schienen im Lichte nüchterner Vernunft unglaubwürdig.

Als sie diese Zweifel entwickelte, reagierte ihre Therapeutin wenig verständnisvoll, vermutete bei der Patientin mangelnde Loyalität und erhöhte den Druck.

Nachdem sie die Therapie abgebrochen hatte, durchlebte sie Gefühle von Befreiung und Angst („Und wenn meine Befreiung jetzt ein Täterprogramm ist?“). Sie und ihre Alltagsbetreuerin, die mit dem Milieu der RG-Lobbyisten nichts zu tun hatte, verglichen den Prozeß mit einem Sektenausstieg. 
Die Patientin zeigt sich im Rückblick erstaunt, daß eine Heilbehandlung, die auf so dünner wissenschaftlicher und sachlicher Grundlage steht und so destruktiv wirkt, daß sich auch nach mehrjähriger Therapie keine Verbesserung, sondern eher das Gegenteil einstellt, eine anerkannte kassenfinanzierte Therapieform ist.

Kai Funkschmidt

Quellen:
https://sekten-info-nrw.de/information/artikel/esoterik/zersplitterung-nach-therapie---bedenkliche-auswirkungen-der-%E2%80%9Erituelle-gewalt-mind-control%E2%80%9C-theorie  (oder: https://tinyurl.com/y2m6jkbx)

Ansprechpartner

Foto Dr. Kai FunkschmidtDr. theol. Kai Funkschmidt
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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