Als sich am 6. Januar dieses Jahres eine große Menschenmenge in Washington D.C. versammelte, um gegen den angeblichen Wahlbetrug und gegen die offizielle Bestätigung des Sieges von Joe Biden in der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl zu demonstrieren, waren bei den Demonstranten auch viele christliche Symbole und Parolen auszumachen. Teilnehmer trugen große Kreuze und Banner mit Aufschriften wie „Say Yes to Jesus“ oder „Jesus is my Savior, Trump is my President“. „Christ is King“, wurde gesungen. „Shout if you love Jesus!“, wurde gerufen, und die Menge jubelte. Dann: „Shout if you love Trump“, und die Menge jubelte noch lauter. Auf Geheiß von Donald Trump zogen die Demonstranten daraufhin vor das Kapitol. Auf dem Weg machten Mitglieder der rechtsradikalen „Proud Boys“ Halt und knieten nieder zum Gebet im Namen Jesu. Sie dankten Gott dafür, dieser „wundervollen Nation“ angehören zu dürfen, baten ihn um die Wiederherstellung ihres „Wertesystems“ und um Schutz bei den folgenden Ereignissen. Auch bei der anschließenden Stürmung des Kapitols durch einen teils bewaffneten Mob, bei der fünf Menschen ums Leben kamen, dürften unter den Aufrührern nicht wenige gewesen sein, die glaubten, nach Gottes Willen zu handeln. „God, Guns & Guts Made America, Let’s Keep All Three“ (zu Deutsch etwa „Gott, Gewehre und ‚Eier‘ [im Sinne von ‚Schneid‘] haben Amerika geschaffen, lasst uns alle drei bewahren“) – auch dieser Slogan war bei Trump-Fans zu lesen, und tatsächlich wurde mindestens eine christliche Flagge bei den Eindringlingen gesichtet.1 „Unzweifelhaft spielte die christliche Rechte eine Rolle bei den Ereignissen vom Mittwoch.“2
Kirchenrepräsentanten äußerten sich entsetzt über diese letzte Eskalation in der Missachtung der demokratischen Kultur Amerikas unter Trumps Ägide. Der Nationale Kirchenrat der USA machte den Präsidenten in einem von vielen Kirchenführern unterzeichneten offenen Brief für den „aufrührerischen“ Akt von „heimischem Terrorismus“ verantwortlich und forderte ihn zum Rücktritt auf – und die einschlägigen politisch Verantwortlichen zur Einleitung aller möglichen Amtsenthebungsoptionen.3 Russel Moore, der Präsident der Kommission für Ethik und Religionsfreiheit der konservativen Südlichen Baptisten, der sich schon zuvor kritisch über Trump geäußert hatte und von diesem dafür persönlich angegriffen worden war,4 schrieb auf Twitter: „Dieser Mob-Angriff auf unser Kapitol und unsere Verfassung ist unmoralisch, ungerecht, gefährlich und unentschuldbar.“5 Auch Albert Mohler Jr., der Präsident des Southern Baptist Theological Seminary in Louisville/Kentucky, der 2016 Trump wegen seines amoralischen Charakters als „evangelikalen Alptraum“6 tituliert, im letzten Wahlkampf aber widerstrebend seine Unterstützung für Trump bekanntgegeben hatte,7 griff zu scharfen Worten, um die aufrührerischen Trump-Supporter und ihren Chef-Aufrührer zu verurteilen: Der „Horror“ des 6. Januar sei die größte Tragödie, die das US-Kapitol je gesehen habe. Es sei das amerikanische Streben nach „geordneter Freiheit“ in Brand gesetzt worden, und zwar von keinem geringeren als vom US-Präsidenten selbst. Und er warnte vor einem weiteren Abgleiten der US-Demokratie in Demagogie und Autokratie.8
Auch im dezidiert evangelikalen Spektrum wurde deutliche Kritik geäußert. So bezeichnete Rick Warren, der Gründer und leitende Pastor der „Saddleback Church“, einer südkalifornischen und auch in Deutschland vertretenen Megakirche, den Sturm auf das Kapitol als Ausdruck „unamerikanischer Anarchie“ und als „kriminellen Verrat“.9 Vor allem aber verurteilte die National Association of Evangelicals die gewaltsamen Ausschreitungen. Es sei dabei eine „verstörende Verbindung von Christentum und nationalistischer Ideologie“ zutage getreten, die vom friedlichen „Weg Jesu weit entfernt“ sei. Auch hier wird dem Präsidenten eine klare Mitverantwortung für die Eskalation zugeschrieben: „Der Mob am Kapitol wurde von Führern aufgestachelt, einschließlich Präsident Trump, die für ihre politischen Zwecke Lügen und Verschwörungstheorien eingesetzt haben.“ Dem müssten sich Evangelikale entgegensetzen. Denn: „Evangelikale sind Menschen, die der Wahrheit verpflichtet sind und die Unwahrheiten zurückweisen sollten.“10 Sowohl die World Evangelical Alliance (WEA) als auch die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) schlossen sich dieser Verurteilung an.11
Freilich müssen sich die amerikanischen (weißen) Evangelikalen die Frage gefallen lassen, ob diese kritischen Einlassungen nicht zu spät kommen. Denn die „verstörende Verbindung“ von Christentum und Nationalismus (man ergänze: und Rassismus)12 unter vielen „Trumpisten“ ist ja nicht erst am 6. Januar offenbar geworden. Dennoch haben bei der Präsidentschaftswahl im November 2020 (ähnlich wie 2016) rund 80 Prozent der weißen evangelikalen Amerikaner für eine zweite Amtszeit von Donald Trump votiert.13 Sie taten dies, teils um das vermeintlich größere Übel einer Liberalisierung der Politik unter der Präsidentschaft eines Demokraten zu verhindern, teils auch in der Überzeugung, dass Trump den Amerikanern von Gott gesandt sei, um die Dominanz weißer Christen in den USA gegen andere ethnische und religiöse Gruppen zu verteidigen. Dass Trump dabei der Demokratie wohl in vielfacher Hinsicht schweren Schaden zufügte, sahen sie nicht oder nahmen es billigend in Kauf. Wie die frommen Protestanten mit dieser am 6. Januar vollends offenbar gewordenen „großen evangelikalen Verlegenheit“ (Albert Mohler)14 in den kommenden Monaten und Jahren umgehen werden, ist eine wichtige Frage für die politisch-religiöse Kultur der Vereinigten Staaten.
Es gibt allerdings auch Prominente im evangelikalen Lager, die hier keinerlei Verlegenheit zu empfinden scheinen und trotz allem weiter unerschüttert an der Seite Trumps stehen. Eric Metaxas, ein bekannter evangelikaler Autor und Radiomoderator und inzwischen glühender „Trump-Gläubiger“15, hatte erst im Dezember bei einem digitalen „Global Prayer for US Election Integrity“ von Evangelikalen seine Gewissheit über den Wahlbetrug mit seiner Glaubensgewissheit verglichen16 und verlauten lassen, Gott sei im Kampf um die „gestohlene“ Wahl auf Trumps Seite – und er selbst, Metaxas, würde liebend gerne für diesen Kampf sein Leben lassen.17 Nach den Ereignissen vom 6. Januar schob er – wie einige andere Evangelikale18 – linksextremen Gruppen die Schuld an dem Gewaltausbruch zu und bekräftigte seine Wahlbetrugsgewissheit: „Es gibt keinen Zweifel, dass die Wahl betrügerisch war. Das gilt heute so wie gestern. Es gibt keinen Zweifel, dass die Antifa die Protestierer unterwandert und alles geplant hat. Das ist politisches Theater, und jeder, der ihnen das abkauft, ist ein Trottel (sucker). Kämpft für Gerechtigkeit und betet für Gerechtigkeit. Gott segne Amerika.“19 Metaxas ist auch in Deutschland bekannt, für seine Bonhoeffer-Biografie und für die Vereinnahmung Bonhoeffers im Sinne eines rechtsevangelikalen Kulturkampfes gegen den gottlosen liberalen Zeitgeist.20
Martin Fritz
Anmerkungen
1 Vgl. Elizabeth Dias/Ruth Graham: How White Evangelical Christians Fused With Trump Extremism, The New York Times online, 11.1.2021 (https://tinyurl.com/y65c2v84); Emma Green: A Christian Insurrection. Many of those who mobbed the Capitol on Wednesday claimed to be enacting God’s will, The Atlantic online, 8.1.2021 (https://tinyurl.com/y6pxh875); Molly Olmstead: „God Have Mercy on and Help Us All“. How prominent evangelicals reacted to the storming of the US Capitol, Slate online, 7.1.2021 (https://tinyurl.com/y255za8k); Faith leaders react to mob at Capitol with prayers, calls for end to violence, Religion News Service, 6.1.2021 (https://tinyurl.com/y587h2zb); Abruf der Internetseiten: 15.1.2021.
2 Molly Olmstead: a.a.O.
3 National Council of Churches: Open Letter to Vice President Pence, Members of Congress, and the Cabinet Calling for the Removal of President Trump from Office, 8.1.2021, online: https://tinyurl.com/y3svw6ww.
4 Vgl. Francis Wilkinson: Religious Never Trumpers Have to Be Tougher Than the Rest, Bloomberg Quint online, 6.5.2020 (https://tinyurl.com/ybntx3ff).
5 Vgl. idea-Pressedienst vom 7.1.2021, Nr. 005, S. 3.
6 R. Albert Mohler, Jr.: Donald Trump has created an excruciating moment for evangelicals, Washington Post online, 9.10.2016 (https://tinyurl.com/jjfg53e).
7 Vgl. Isaac Chotiner: How the Head of the Southern Baptist Theological Seminary Came Around To Trump, The New Yorker online, 22.6.2020 (https://tinyurl.com/ycbtjqo7).
8 Vgl. https://albertmohler.com/2021/01/07/briefing-1-7-21.
9 Vgl. online: https://twitter.com/RickWarren/status/1346917979200475142.
10 Vgl. https://www.nae.net/nae-denounces-insurrection-capitol/.
11 Vgl. https://www.ead.de/08012021-global-leadership-networkstatement-zum-sturm-auf-das-kapitol/.
12 Vgl. dazu Philip Gorski: Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump, Freiburg i. Br.: Herder 2020.
13 Vgl. idea-Pressedienst vom 9.11.2020, Nr. 233, S. 2.
14 Vgl. R. Albert Mohler, Jr.: Donald Trump has created an excruciating moment for evangelicals, Washington Post online, 9.10.2016 (https://tinyurl.com/jjfg53e): „Great Evangelical Embarressment“.
15 Vgl. Bob Smietana: How Eric Metaxas went from Trump despiser to true believer, Religion News Service, 3.12.2020 (https://tinyurl.com/y435eyqf); ferner Robert K. Vischer: Eric Metaxas and the losing of the evangelical mind, Religion News Service, 1.12.2020 (https://tinyurl.com/y3roe8db).
16 Vgl. das Zitat ebd: „It’s like somebody saying, ‚Oh, you don’t have enough evidence to believe in Jesus.‘ We have enough evidence in our hearts.“
17 Vgl. ebd.
18 Vgl. John Sandemann: The Antifa Test – The Riot In the Capitol Shows Conspiracy Theories Persist, Eternity News online, 8.1.2021 (https://tinyurl.com/yyp4debx); Faith leaders react to mob at Capitol with prayers, calls for end to violence, Religion News Service, 6.1.2021 (https://tinyurl.com/y587h2zb). Ob sich auch Franklin Graham diesen Verschwörungstheoretikern angeschlossen hat, ist nicht ganz klar. Er wird mehrfach mit einer entsprechenden Twitter-Nachricht zitiert, die aber auf Twitter nicht (mehr?) zu finden ist.
19 Vgl. online: https://twitter.com/ericmetaxas/status/1346999268360515584?ref_src=twsrc%5Etfw. Twitter hat den Tweet mit einem Warnhinweis versehen.
20 Eric Metaxas: Bonhoeffer. Pastor, Martyr, Prophet, Spy, Nashville u.a.: Thomas Nelson Pub. 2010; auf Deutsch: Bonhoffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen: SCM Hänssler 2011. Vgl. Arnd Henze: Wem gehört Bonhoeffer? Wie rechte Kreise den Theologen und Widerstandskämpfer vereinnahmen, Zeitzeichen 12/2019, S. 8-11 (online: https://zeitzeichen.net/node/7980). Ergänzend wäre im Übrigen auch die Vereinnahmung Bonhoeffers durch den Linksprotestantismus zu untersuchen.
Ansprechpartner
PD Dr. theol. Martin Fritz
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin
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