Das Bild ging durch die Medien: Eine Gasse zwischen zwei großen blauen Fahrzeugen, zwei Wasserwerfern der Polizei, im Hintergrund das Brandenburger Tor. Eine Frau steht einem Polizisten in voller Einsatzmontur samt Helm gegenüber und hält ihm mit der hocherhobenen Rechten ein Kruzifix entgegen. Die Szene hat geradezu ikonische Qualität. Sie zeigt eine Christin im Protest gegen die Staatsgewalt. Sie wurde bei der Anti-Corona-Demonstration am 18.11.2020 in Berlin fotografiert, die aus Anlass der Bundestagsabstimmung über ein reformiertes Infektionsschutzgesetz stattfand.
Die Szene verdichtet in einem Bild, was auch zuvor schon einiges an Irritation ausgelöst hat. So traten im Corona-Jahr 2020 im Zusammenhang von Protesten gegen Anti-Corona-Maßnahmen immer wieder Personen und Gruppen öffentlich in Erscheinung, die mit ihren Bekundungen gegen die „totalitären“ Eingriffe des Staates und gegen die „Meinungsdiktatur“ der „Mainstreammedien“ signifikante Übereinstimmungen mit Äußerungen rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen zeigten – und die sich dabei erkennbar auf ihr Christentum beriefen. Auch traten Pastoren oder Gemeindeleiter auf Querdenker-Bühnen auf.1 Aufgrund der neuen Sichtbarkeit von Christen im Widerstand gegen die Staatsgewalt wurde nun in einigen Medien die Frage laut, ob denn von den Frommen in den deutschen „bible belts“ eine ähnliche politische Einflussnahme zu erwarten sei wie in den U.S.A. oder ob gar, wie ein Buchtitel von 2018 suggerierte, bereits eine „Unterwanderung der Gesellschaft“ durch „rechte Christen“ stattgefunden habe.2
Daraufhin haben sich einige Repräsentanten des pietistisch-evangelikalen Protestantismus zu Wort gemeldet und Stellung zur sog. Querdenker-Bewegung bezogen. Michael Diener, 2012 bis 2016 Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, 2009 bis August 2020 Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands und derzeit immer noch Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, betonte in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), nur eine Minderheit von evangelikalen Christen sei für derartige Strömungen ansprechbar. Diese Gruppe sei „klein, aber doch sichtbar“. Sie sehe sich durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen marginalisiert (z.B. Abtreibungsgesetze, „Ehe für alle“, Zuwanderung von Muslimen) und nicht mehr durch die aktuelle Regierung vertreten. Daraus resultiere ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Regierungsmaßnahmen zur Bewältigung der Krise. Hinzu komme bei manchen eine apokalyptische Deutung der Lage, wonach die Pandemie mitsamt den weltweiten Gegenmaßnahmen ein Zeichen für das endzeitliche Wirken des Antichrist sei. Diese Auffassung könne die vorhandene Staatsdistanz noch verschärfen.3
Im Blick auf die Einschätzung Dieners warnt Uwe Heimowski, der Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz am Sitz des Deutschen Bundestages, vor Verallgemeinerungen. Menschen, die sich aus Glaubensgründen dem Generaltrend der Gesellschaft gegenüber fremd fühlten, dürften nicht pauschal „mit den Querdenkern in eins gesetzt“ werden. „Viele, die bei den genannten Stichworten [also Abtreibung, Ehe für alle, Zuwanderung etc.; M.F.] sehr kritisch sind, halten sich jetzt an die Maßnahmen der Regierung, um andere nicht zu gefährden.“4
Der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Frank Heinrich, Mitglied des Hauptvorstands der Deutschen Evangelischen Allianz, äußerte in einem Videogespräch mit Heimowski Verständnis für die allgemeine Verunsicherung in der Gesellschaft. Zudem hätten die Einschränkungen von Freiheitsrechten bei manchen bibeltreuen Christen im Osten Deutschlands Erinnerungen an die DDR-Zeit geweckt. Allerdings sei er wegen seiner Unterstützung des Infektionsschutzgesetzes – ihn hätten 2000 kritische Emails erreicht!5 – von Christen in einer aggressiven Weise persönlich angegriffen worden, die er nicht mehr nachvollziehen könne. Er sei nicht nur als „Volksverräter“ beschimpft, sondern es sei ihm auch der Glaube abgesprochen und „das Gericht Gottes an den Hals gewünscht“ worden. Insgesamt aber gelte: Es gebe Gegner und Befürworter der Corona-Maßnahmen in allen Bereichen der Gesellschaft – und so auch unter Evangelikalen.6
Überaus deutlich hat sich das pietistische Netzwerk „ChristusBewegung Lebendige Gemeinde“ innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in einer Stellungnahme gegen die Querdenker-Bewegung und dort kursierende Verschwörungstheorien ausgesprochen. Zugleich widerspricht die ChristusBewegung darin ebenfalls Medienberichten, „die den Pietismus und Evangelikalismus“ generell „als Nährboden und Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker, ‚Querdenker‘ und Corona-Leugner diffamieren“. Solche Theorien fänden freilich auch im Raum des Pietismus Anhänger. An diese Gruppe ist der Appell gerichtet, nicht an Anti-Corona-Demonstrationen teilzunehmen: „Das extremistische Umfeld der jüngsten Corona-Demonstrationen in Berlin und Leipzig ist kein Ort für christlich motivierten Protest, ganz gleich wogegen er sich richtet.“ Es sei vielmehr Dankbarkeit angebracht über „die verantwortungsvolle und vernünftige Führung und Gesetzgebung der politisch Verantwortlichen“. Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten seien in der Pandemie nötig, um andere Grundrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Der Parallelisierung des Infektionsschutzgesetzes mit dem „Ermächtigungsgesetz“7 von 1933 und anderen sprachlichen Entgleisungen aus dem Querdenker-Kontext („Impf-Holocaust“ u.a.) erteilt die Erklärung ausdrücklich eine Absage.8
Dieser Erklärung hielt wiederum der Württemberger Pfarrer Werner Neuer, ehemals Dozent am evangelikal geprägten Theologischen Seminar St. Chrischona (Schweiz), in der Zeitschrift idea-Spektrum entgegen, sie sei in ihrer Einseitigkeit „kaum geeignet, einen fruchtbaren Dialog mit andersdenkenden Christen zu eröffnen“. „Angesichts der vielen substanziellen Einwände von Medizinern, Verfassungsrechtlern, Juristen, Politikern, Philosophen und Theologen, die in den letzten neuen Monaten in Deutschland und weltweit gegen die verfassungsfeindlichen Maßnahmen der staatlichen Coronabekämpfung erhoben wurden, erscheint das Dokument der Lebendigen Gemeinde in bestürzender Weise als kritiklos und obrigkeitshörig. Wer nicht bereits die Meinung der Verfasser teilt, wird die Stellungnahme irritiert und kopfschüttelnd weglegen.“ Auch sei die Kritik an den Kritikern der staatlichen Corona-Maßnahmen überzogen und fehlgeleitet: „Die pauschale Verleumdung der Kritiker […] folgt kritiklos der regierungstreuen und daher einseitigen Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien und stellt die Tatsachen auf den Kopf: Die sog. Querdenker-Bewegung hat sich stets mit Nachdruck von Gewalt, Hass und Extremismus distanziert, zu Liebe, Freiheit und Gewaltlosigkeit aufgerufen und immer wieder auf ihren Kundgebungen sogar dezidiert christlichen Beiträgen von Rednern oder Musikern Raum gegeben!“9 Vermutlich war dem Autor beim Verfassen dieser Zeilen noch nicht zur Kenntnis gelangt, dass sich der Begründer von „Querdenken 711“, Michael Ballweg, zusammen mit rund 80 Gesinnungsgenossen Ende November mit dem mutmaßlichen Reichsbürger Peter Fitzek getroffen und am Rande von Querdenker-Veranstaltungen mehrfach mit dem „Volkslehrer“ und Holocaust-Leugner Nikolai Nerling gesprochen hat, weshalb die „Organisationsebene“ der „Querdenker“ vom baden-württembergischen Verfassungsschutz als Beobachtungsobjekt eingestuft worden ist.10
Die Debatte zeigt: Das Spektrum der politischen Haltungen und Meinungen zur Krise und Krisenbekämpfung innerhalb des pietistisch-evangelikalen Protestantismus ist tatsächlich breit – so breit wie in der Gesamtgesellschaft. Wie die Gewichte in diesem Spektrum verteilt sind, lässt sich schwer sagen. Insgesamt dürfte aber doch Michael Diener Recht zu geben sein: Einer Mehrheit von pietistisch-evangelikalen Befürwortern der Corona-Maßnahmen steht eine kleine, aber sichtbare Minderheit gegenüber, die sich in der Ausnahmesituation auch aus religiösen Gründen vornehmlich zu Kritik und Widerstand gerufen sieht.
Martin Fritz
Anmerkungen
1 Vgl. Martin Fritz: „Christen im Widerstand“ – ein Pfingstpastor bei den Berliner Corona-Demonstrationen, in: EZW-Newsletter 9/2020: http://ezw.kjm6.de/nlgen/tmp/1600755725.html; und in: MdEZW 6/2020, S. 450–453.
2 Vgl. Liane Bednarz: Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, München 2018. – Vgl. z.B. Marc Röhlig: Stuttgart und das Erzgebirge: Wie die deutschen „Bible Belts“ die Anti-Corona-Proteste befeuern, spiegel-online am 18.11.2020: https://tinyurl.com/y4tbj7ms; Frank Heindl: Mit erhobenem Kruzifix: Sind christliche „Querdenker“ eine neue Gefahr für unsere Demokratie?, web.de am 3.12.2020: https://tinyurl.com/y52v4s8a (Aufruf der Internetseiten am 10.12.2020).
3 Vgl. epd-Nachrichten, Zentralausgabe Nr. 225 vom 19.11.2020, S. 6f; Zentralausgabe Nr. 226 vom 20.11.2020, S. 3f.
4 Vgl. idea-Pressedienst Nr. 255 vom 8.12.2020, S. 16-20, hier S. 18.
5 Vgl. zu dieser offenbar konzertierten Aktion Uwe Jahn: „Massen-Mails gegen das Infektionsschutzgesetz“, mdr-aktuell am 18.11.2020: https://tinyurl.com/yy68aweh.
6 Vgl. online: https://www.youtube.com/watch?v=BGygWkRZXYs; ferner epd-Nachrichten, Zentralausgabe Nr. 226 vom 20.11.2020, S. 3f.
7 Diesen Vergleich hatte u.a. der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland in der Bundestagsdebatte am 18.11.2020 anspielungsweise vorgenommen. Vgl. Peter Hille: Corona-Ermächtigungsgesetz? Warum der Vergleich mit 1933 täuscht, dw-online am 18.11.2020: https://tinyurl.com/yyea6po8.
8 Vgl. epd-Nachrichten, Zentralausgabe Nr. 231 vom 27.11.2020, S. 4f; idea-Pressedienst Nr. 248 vom 27.11.2020, S. 7
9 idea-Pressedienst Nr. 255 vom 8.12.2020, S. 12f.
10 Vgl. Rüdiger Soldt/Stefan Tomik: „Vernetzung mit rechtsextremistischen Personen“. Verfassungsschutz beobachtet „Querdenker“-Gruppe im Südwesten, in: F.A.Z. vom 10.12.2020, S. 2. Vgl. aber auch schon Rüdiger Soldt/Stefan Tomik: Audienz bei König Peter I. Die Gruppe der „Querdenker“ grenzt sich von Extremisten ab. Im Geheimen suchte sie jedoch Kontakt zu einem Reichsbürger, in: F.A.Z. vom 26.11.2020, S. 4 (auch online: https://tinyurl.com/yxfwcc98).