Kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember 2021, veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Ergebnisse einer Studie vom Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) zur gegenwärtigen Lage des Christentums in Deutschland.1 Der Titel des Artikels deutet das dramatische Gesamtresultat an: Die deutsche Gesellschaft drohe eine „christliche Kultur ohne Christen“ zu werden. „Tatsächlich“, so Petersen, „lässt sich bereits seit Jahrzehnten eine Erosion des Christentums in Deutschland beobachten, die langsam, aber beharrlich fortschreitet“. Das trete nun offen zutage. Denn das bevorstehende Weihnachtsfest werde „voraussichtlich das letzte sein, an dem die Christen in Deutschland in der Mehrheit sind“.
Aufmerksame Leserinnen und Leser werden sich bei diesem Satz die Augen gerieben haben. In der Tat, es wird wohl nicht mehr lange dauern, „bis die Zahl der Kirchenmitglieder“ bezogen auf die deutsche Gesamtbevölkerung „die 50-Prozent-Schwelle unterschreitet“. Aber diese Kirchenmitglieder können keinesfalls kurzerhand mit „den Christen in Deutschland“ in eins gesetzt werden. Denn abgesehen von den orthodoxen Christen (ca. zwei Millionen)2, die hierbei unberücksichtigt bleiben, ist auch das „Christentum außerhalb der Kirche“ (Trutz Rendtorff) zu registrieren.
Zum einen leben viele Zeitgenossen ihren Glauben in Freikirchen oder freien christlichen Gemeinschaften, weil ihnen das kirchliche Christentum zu glaubens- und/oder bindungsschwach erscheint. Die Anzahl dieser „freikirchlichen“ Christen (hier im weitesten Sinne von „nicht zu den Großkirchen gehörig“ genommen) in Deutschland dürfte, je nach Abgrenzung, in niedriger siebenstelliger Höhe zu veranschlagen sein.3 Das sind definitiv zu viele, um sie in einem Bild des Gegenwartschristentums einfach zu ignorieren.
Zum anderen gibt es Menschen, die sich selber als „gläubig“ oder „christlich“ im religiösen Sinne bezeichnen würden, ohne irgendeiner Kirche oder religiösen Gemeinschaft anzugehören. Immer noch sagen viele, sie „glaubten“, bräuchten dazu aber keine Kirche. Ein derartiges konfessionsloses „Einzelgängerchristentum“ von vornherein für unmöglich oder gar unstatthaft zu erklären, wäre, jedenfalls für eine sozialwissenschaftliche Perspektive, allzu normativ.
Es gilt also erstens: Die Lage des Christentums ist nicht identisch mit der Situation der Kirchen. Und zweitens: Die Diagnose der Lage des Christentums (einschließlich jeder quantitativen Abschätzung) hängt wesentlich davon ab, was man unter „Christentum“ versteht. Es gibt aber seit dem Anbruch von Reformation und Neuzeit keine Instanz mehr, der dafür eine allgemein anerkannte Definitionsmacht zukäme. Das macht eine Lagebestimmung enorm voraussetzungsreich, standpunktrelativ und schwierig.
In sozialwissenschaftlichen Erhebungen zur Lage des Christentums schlägt sich der jeweils (wie bewusst auch immer) in Anschlag gebrachte Begriff vom Christentum sowohl im Design der Fragen als auch in der Interpretation der darauf gegebenen Antworten nieder. Beides lässt sich an der vorliegenden Allensbach-Studie exemplarisch beobachten. Was sich dabei zeigt, relativiert deutlich das Gewicht ihrer Ergebnisse.
„Hinter dem Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen verbirgt sich eine Erosion des christlichen Glaubens, die noch weit größere Ausmaße hat“, so lautet die zentrale These von Petersen, mit der er die Behauptung von der „Erosion des Christentums“ konkretisiert. Denn selbst die meisten Kirchenmitglieder haben den „Glauben an die wesentlichen Inhalte des Christentums“ eigentlich schon „verloren“. Ausschlaggebend für diese Behauptung sind für Petersen die Antworten der Befragten auf die Frage, „woran sie glauben“. Dazu wurden ihnen bestimmte „Glaubensinhalte“ vorgelegt, die sie bejahen oder verneinen sollten. Das Resultat: „Vor allem die Kerninhalte des christlichen Glaubens werden schon seit längerer Zeit nur noch von einer Minderheit der Bevölkerung vertreten. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, glaubten 1986 in Westdeutschland 56 Prozent, heute sind es noch 37 Prozent. Der Glaube an die Dreifaltigkeit ist in Westdeutschland in der gleichen Zeit von 39 auf 27 Prozent zurückgegangen, der an die Auferstehung der Toten von 38 auf 24 Prozent.“
Glaube wird hier wesentlich als ein Fürwahrhalten bestimmter Gehalte oder Sätze begriffen. Alle mystischen, reformatorischen oder religionsphilosophischen Vertiefungen der älteren und jüngeren Theologiegeschichte werden blankweg übergangen. Dass Glaube bzw. christliche Religion wesentlich als tiefes Transzendenzvertrauen, letzter Lebensmut, existenzielles Geborgenheitsgefühl zu begreifen sind, sich speisend aus einem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bezug der Seele auf „Gott“ als den unbedingten Grund des eigenen Seins und Sinns (Paul Tillich) – derartige Tiefenaspekte geraten durch die Fixierung auf zu bejahende Inhalte des christlichen Bekenntnisses aus dem Blick. Das ist zwar methodisch nachvollziehbar, weil sich jene Tiefenschichten in einer Befragung weit schwerer erheben lassen als die alternative Wahl von „glaube ich“ und „glaube ich nicht“. Aber dieses Verfahren ähnelt das Christsein schon im Ansatz dem Vollzug einer Katechismusprüfung an.
Nachgerade kurios nimmt sich die Untersuchung angesichts der abgefragten „Kerninhalte“ des christlichen Glaubens aus. Glauben Sie, dass Jesus der Sohn Gottes ist? Diese Frage kann man auch und gerade als „tiefgläubiger“ Christ nur unkommentiert bejahen, sofern man dies stillschweigend als generelle Bejahung einer noch näher zu bestimmenden Heils- oder Offenbarungsbedeutung Jesu nimmt. Aber als einfache Aussage? Dann müsste man ja erläutern können, was dieser Satz, ursprünglich wohl Ausdruck frühchristlicher Geistchristologie, näher bedeuten soll. Sollte man sich aber dazu nicht in der Lage sehen und stattdessen schlicht die augenscheinliche Paradoxie – der Mensch Jesus der Sohn Gottes? – empfinden, wird man vielleicht doch lieber „Nein“ ankreuzen.
Auch der zweite Punkt wirft die Frage auf: Was glaubt, wer „an die Dreifaltigkeit glaubt“? Für die allermeisten Christenmenschen dürfte die Trinität eine relativ unverstandene Chiffre für das „irgendwie Zusammengehören“ Jesu Christi mit Gott sein (und mit dem Heiligen Geist, worunter man sich aber am wenigsten denken kann) – und ansonsten vor allem eine feierliche liturgische Formel. Für das Glaubensleben hat sie darüber hinaus in der Regel keine nähere Bedeutung. An der Zustimmung oder Nichtzustimmung zu dieser Lehre mit ihren Wurzeln in der antiken Metaphysik sollte sich die gegenwärtige Lage des Christentums bemessen lassen?
Auch die Frage nach dem „Glauben an die Auferstehung der Toten“ schließlich fordert zu Rückfragen heraus. Ist damit eine allgemeine Auferstehung am „jüngsten Tag“ gemeint oder die individuelle Auferstehung im Augenblick des Todes? Ist jener Glaube als Alternative zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu verstehen? Und kann ich über das, was ich für mich und meine Lieben vielleicht in Augenblicken überschwänglicher Frömmigkeit anzunehmen wage, bei einer demoskopischen Umfrage Auskunft geben wie sonst über meine Parteipräferenzen oder meinen Tabakkonsum?
Die Sichtung der von Petersen/Allensbach ins Auge gefassten „Kerninhalte“ des Christentums offenbart ein Grundproblem empirisch-quantitativer Religionsforschung. Aus Gründen der leichten Abfragbarkeit und Vergleichbarkeit neigt sie dazu, das Religiöse neben der äußeren Praxis (Gottesdienstbesuchs- und Gebetsfrequenz etc.) auf die äußerliche Schicht religiöser Vorstellungen und Aussagen zu reduzieren. Damit setzt sie aber unter der Hand eine neu-„orthodoxe“ Auffassung des Christlichen voraus, welche die kognitive Zustimmung zu einer Reihe von Wahrheitsbehauptungen für maßgeblich hält, für eine zwingende Zugangsbedingung oder Vollzugsform des Glaubens. Sie votiert damit für eine Fassung des Christlichen, die allen unbestimmteren Gestalten christlicher Religiosität oder „Spiritualität“ wie dem leisen Ahnen oder zweifelnden Hoffen, die sich harten Bekenntnisaussagen entziehen, allenfalls nachrangige Bedeutung zuweist.
Freilich gibt es auch heute noch viele Menschen, die genau diese dogmatische Bestimmtheit für ihren Glauben suchen und schätzen, in den Kirchen wie in den Freikirchen. Aber für eine große Zahl der Zeitgenossen ist ein solches Bekenntnischristentum nicht mehr zugänglich, weil es zu Erfahrungsarmut tendiert und weil es in vielerlei Hinsicht mit dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein kollidiert. Viele von ihnen suchen aber trotzdem nach christlicher Spiritualität. Es gibt keine guten Gründe, sie aus dem Christentum von vornherein auszuschließen, sei es bei der wissenschaftlichen Diagnose oder bei der Gestaltung des kirchlichen Lebens. Vor allem hüte man sich davor, in Sozialwissenschaft und Kirche, das „orthodoxe“ Bekenntnis, von hoher Christologie über Trinität bis zu Auferstehung der Toten, weiterhin ungebrochen zum Maßstab des Christlichen zu erklären. Irgendwann verinnerlichen die Menschen diese Norm – und erklären folgerecht, dass sie der Kirche und dem Christentum offenkundig nicht zugehören. Damit würden Wissenschaft und Kirche eben jene „Erosion des Christentums“ vorantreiben, die – unbeschadet aller Mängel der besprochenen Untersuchung – keinesfalls geleugnet werden kann. Aber um sie genauer zu vermessen und zu begreifen, bedarf es eines differenzierteren und elaborierteren diagnostischen Instrumentariums.
Martin Fritz
Anmerkungen
1 Thomas Petersen: Christliche Kultur ohne Christen. Zum letzten Mal Weihnachten mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit?, in: F.A.Z. Nr. 298 vom 22.12.2021, S. 8 (online: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/christen-vielleicht-keine-mehrheit-mehr-abkehr-der-kulturtradition-17695452.html). Abruf der Internetseiten 16.1.2021.
2 Vgl. https://www.remid.de/info_zahlen/orthodoxie/.
3 Vgl. https://www.remid.de/info_zahlen/protestantismus/.