Auch ohne Muslime hat Deutschland, darüber besteht in der Antisemitismusforschung einhelliger Konsens, in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein Antisemitismusproblem. Weniger einhellig ist der Befund der Forschung hinsichtlich der Frage, in welchem Maße sich von einem kulturell bedingt muslimischen oder gar religiös begründeten islamischen Antisemitismus sprechen lässt. Das mit dieser Frage verbundene Forschungsfeld ist unübersichtlich und komplex, die Forschung dazu, zumindest in Deutschland, noch überschaubar. Vom Mediendienst Integration beauftragt und von der Robert Bosch Stiftung gefördert, hat Dr. Sina Arnold vom „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin) eine Expertise zum „Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen“ (Berlin 2023) erstellt, die zentrale Forschungsergebnisse zum Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund zusammenträgt und es so ermöglicht, die vielfältigen Erscheinungsformen von Antisemitismus unter Migranten im Allgemeinen und unter Muslimen im Besonderen besser einordnen zu können.
Dabei ist, so die Studie, die doch sehr abstrakte Kategorie „Migrationshintergrund“ (MH) zur Erforschung antisemitischer Einstellungen „nur bedingt aussagekräftig“. Zu fragen ist vielmehr, „wie lange die jeweiligen Personen bereits in Deutschland leben, ob sie eingebürgert wurden und aus welchem Herkunftsland sie kommen.“ (2) Und es ist zwischen unterschiedlichen Formen von Antisemitismus zu unterscheiden: Neben dem (a) klassischen Antisemitismus, der Juden bestimmte biologische, „rassische“ oder kulturelle Eigenschaften zuschreibt und Verschwörungstheorien befördernde Stereotypen beinhaltet, ist der Studie zufolge noch zwischen (b) einem mit der deutschen Erinnerungskultur verbundenen sekundären Antisemitismus und (c) einem israelbezogenen Antizionismus zu unterscheiden. Letzterer verknüpft sich in den gemeinschaftlichen, von fortwährender Kritik an israelischer Staatspolitik begleiteten Sozialräumen der (jungen) Muslime häufig mit der Reproduktion antisemitischer Vorstellungen, wird aber ausdrücklich antisemitisch erst dann, wo israelische Politik mit dem NS gleichgesetzt oder mit anderen Standards als andere Demokratien beurteilt wird (vgl. 3).
Relativ eindeutig ist die von Arnold referierte Forschungslage dahingehend, dass Muslime sowohl zum klassischen als auch zum israelbezogenen Antisemitismus signifikant höhere Zustimmungswerte aufweisen als Nicht-Muslime bzw. Menschen ohne Migrationshintergrund (MH; vgl. 2). Ist es bei Letzteren ein Anteil von 10%, der klassisch-antisemitische Einstellungen pflegt, sind es bei den Befragten mit türkischem MH 52,2%, also mehr als jeder Zweite. Erklären lässt sich dies zum Teil mit dem weit verbreiteten, gelegentlich auch zur staatlichen Propaganda gehörenden Antisemitismus muslimischer Herkunftsstaaten und dem Nahostkonflikt als dem - nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland - entscheidenden Katalysatoren bei der Ausprägung antisemitischer Denk- und Handlungsmuster. Im Ergebnis decken sich die von Arnold aufgeführten Studien mit der „Autoritarismus“-Studie von 2020, derzufolge 40,5% der befragten Muslime (mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit) einen israelbezogenen Antisemitismus aufwiesen, von den evangelischen, katholischen bzw. konfessionslosen Befragten hingegen nur 5,2%, 7,1% bzw. 9,4% (vgl. ebd. 10).
Die höheren Zustimmungswerte zu antisemitischen Einstellungen unter Muslimen werden in der Forschung nicht allein mit Blick auf die Herkunft aus der islamischen Welt sowie auf den (noch nicht erfolgten) Akkulturationseffekt erklärt. Als zentral erweisen sich zum einen Erfahrungen von Diskriminierung, die ein erhöhtes Bedürfnis nach Identifikation mit einer – religiösen, nationalen, ethnischen – „Eigengruppe“ bedingen. Zum anderen scheint die jeweilige Auslegung einer Weltanschauung oder Religion von größerer Relevanz als die weltanschauliche Orientierung oder Selbstbezeichnung (religiös oder nicht) selbst. Begünstigt wird eine Feindschaft gegenüber Juden den Forschungen zufolge insbesondere durch „dogmatisch-fundamentalistische oder traditionell-konservative religiöse Einstellungen“ (8). Differenziert werden muss auch zwischen den verschiedenen religiösen oder ethnischen Bevölkerungsgruppen: Unter sunnitischen Muslimen in Deutschland sind es 25%, welche die Existenz des Judentums als bedrohlich empfinden, unter den Aleviten nur 2% (vgl. ebd. 13).
Irritierend ist der in Punkt 4 der Studie referierte Befund zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die bei der Erfassung antisemitischer Straftaten „nicht nach Migrationshintergrund oder Glaubenszugehörigkeit, sondern nur nach der politischen Einstellung“ (12) differenziert, ordnet dem Phänomenbereich „religiös ideologisch“ bzw. „islamisch motiviert“ nur einen geringen Prozentsatz von 1-2 % der erfassten Straftaten zu. Die den Eindruck einer überwiegend rechtsextremen Täterschaft suggerierenden Statistiken widersprechen jedoch der Wahrnehmung jüdischer Betroffener selbst, die nach eigenen Angaben in fast allen europäischen Ländern Antisemitismus zu einem großen Teil von muslimischer Seite erfahren. In einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2018 gaben 41% ihre persönlichen Diskriminierungserfahrungen mit „someone with an extremist Muslim view“ an. Im Rahmen einer bereits 2017 durchgeführten Umfrage unter 553 Jüdinnen und Juden in Deutschland bekundeten 70% die Sorge einer Zunahme des Antisemitismus, „weil viele Flüchtlinge antisemitisch eingestellt sind“ (13).
Die Studie ruft dazu auf, Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund nicht zu verharmlosen, „etwa aus Angst vor der Reproduktion rassistischer Zuschreibungen“ (15), zugleich aber auch den antimuslimischen Rassismus als zentralen Bestandteil der Lebenswelt deutscher Muslime ernst zu nehmen, insofern die Erfahrung rassistischer Diskriminierung antisemitische Einstellungen oder Handlungen in einem beträchtlichen Maße befördert. Ein Exkurs am Ende der Studie (16) differenziert nochmals zwischen verschiedenen islambezogenen Antisemitismen: Beschreibt der islamische Antisemitismus (a) judenfeindliche Einstellungen unter Muslimen, die sich positiv auf Passagen im Koran oder der islamischen Tradition beziehen, bildet die Judenfeindschaft im islamistischen Antisemitismus (b) einen unabdingbaren Bestandteil des radikalislamistischen Weltbildes.Der arabische Antisemitismus (c) wiederum hat seinen ideologischen Bezugspunkt nicht in der Religion, sondern im (regional unterschiedlich ausgeprägten) arabischen Nationalismus, der Muslime und Angehörige anderer Religionen gleichermaßen verbindet. Als islamisiert (d) schließlich wird jener Antisemitismus unter Muslimen bezeichnet, der sich als ideologischer Import des christlichen Antijudaismus und/oder des europäischen Antisemitismus in die islamische Welt beschreiben lässt.
Die heuristisch wertvolle Klassifikation sollte freilich nicht den Blick dafür verstellen, dass die sich zum Teil auch überlappenden Formen des Antisemitismus in der Realität nie trennscharf nebeneinander, sondern in unterschiedlichsten Mischformen auftreten. Dabei kann es zu komplexen Verbindungen ursprünglich differenter Ausprägungen und Erscheinungsformen des Antisemitismus kommen: Antisemitische Narrative werden aus ihrem kulturellen und religiösen Kontext gelöst und in einer dekulturierten und dekontextualisierten Form zur Feindbildkonstruktion genutzt. Insofern muss ein von (insbesondere jungen) Muslimen reproduzierter Antisemitismus noch nicht zwingend ein religiös motivierter, speziell „islamischer“ Antisemitismus sein. Auf einer allgemeineren, konkretere Klassifikationen überschreitenden Ebene macht es daher Sinn, schlicht von einem Antisemitismus unter und von Muslimen sprechen.